Warum Unternehmen trotz Perfektion nicht kostendeckend wirtschaften
Immer bessere Funktionalitäten, mehr Standards, Modularität und niedrige Total Cost of Ownership zu einem fairen Preis: So lässt sich kurz und knapp zusammenfassen, was Unternehmen aller Branchen von ihren Maschinen- und Anlagenbauern und die wiederum von ihren Bauteil- und Komponentenlieferanten erwarten. Die Konsequenz: Das Spannungsfeld zwischen Engineering und Controlling wird größer. Nicht erst seit gestern ist der Einkauf angehalten, z. B. die Einstandskosten für Zukaufteile oder Module niedrig zu halten. Was vielen Entscheidern – trotz des engen Dialogs mit dem Einkauf – nicht bewusst ist: die Wahl des Lieferanten nimmt entscheidenden Einfluss auf die Kosten. Studien
[1] zeigen, dass Auftraggeber bei einer kostengetriebenen Entscheidung zwischen zwei Lieferanten oft Mehrkosten generieren.
Doch auch auf Seiten der Auftragnehmer gibt es ein Phänomen, das die Kosten negativ beeinflusst und damit gewachsene gute Geschäftsbeziehungen zwischen Dienstleister und Auftraggeber beeinträchtigen kann: Over-Engineering. Was sich dahinter verbirgt, wo mögliche Ursachen liegen und welche Lösungen es gibt, behandelt dieses White Paper.
Kostenfalle: an der Spezifikation vorbeiplanen
Viele Unternehmen haben Over-Engineering im eigenen Haus als Kostentreiber zu Beginn der Produktentwicklung gar nicht auf ihrer Agenda. Das lässt sich auch durch die Vielfalt der Schnittstellen erklären – ein technischer Dialog zwischen den Ingenieuren des Auftraggebers und den ausführenden Konstrukteuren beim Auftragnehmer ist keinesfalls Standard. Das hat Konsequenzen, denn
den Produktentstehungsprozess gibt es nicht. Unternehmen denken in Variationen und handeln zunehmend agil. Konstrukteure orientieren sich grob an dem, was etwa im Maschinenbaustudium gelehrt wird
[2]. So ist der Produktentstehungsprozess u. a. angelehnt an den Leitfaden der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktentwicklung (WiGeP) und wird grob in folgende Phasen unterteilt:
- Produktplanung (Bedarfsermittlung, Ideenfindung, Machbarkeitsstudie)
- Produktentwicklung (Auslegung, Design)
- Produktion (Fertigungsplanung, Fertigung, Montage, Inbetriebnahme)
Auffällig ist auch, dass der Produktentstehungsprozess zu selten als Teil des Produktlebenszyklus betrachtet wird. Die Konsequenz: Betrieb, Instandhaltung und nicht zuletzt Entsorgung oder Wiederverwendung bzw. Wiederverwertung des Produktes werden nicht ausreichend berücksichtigt. Auch das fördert Over-Engineering. Ein Beispiel
[3] aus der Praxis veranschaulicht die Folgen: Ein Ingenieur hatte ein Fertigungskonzept zu optimieren. Es handelte sich um einen voll automatisierten Prozess, bei dem eine Station bereitgestellte Leckage-Schwämme in ein Endprodukt fügt. Dieser Vorgang bedarf keiner besonders hohen Kraft – ein klassischer Pick-and-Place Prozess. Das Untergestell, die Jochplatte sowie die Säulen, die die pneumatischen Achsen trugen, waren nach Aussagen des Ingenieurs aber so ausgelegt, als müsse der Schwamm mit 10.000 Newton verpresst werden. Nach Meinung des Experten wäre eine leichtere und günstigere Maschinenkonstruktion ausreichend gewesen für die Anforderungen des Kunden. Die Folgen: Mehrkosten beim Material und in der Konstruktion. Mehrwerte: keine.
Ohne Dialog sind konstruktive Ideen oft zu viel des Guten
Es kann davon ausgegangen werden, dass sich das Dilemma durch bessere Kommunikation hätte vermeiden lassen. Denn ob ein entwickeltes Produkt tatsächlich alle Vorgaben des Kunden erfüllt, lässt sich erst nach dem Verkauf und einer Auswertung der Umsatzzahlen und Deckungsbeiträge exakt beziffern. Zwar unterstützen Software-Tools, Analysen und Annahmen in der Planungsphase – aber Gewissheit gibt es erst nach der Inbetriebnahme und erfolgreicher Produktion.
Für Unternehmen ein schmaler Grat: Sie dürfen weder an den Bedürfnissen der Kunden vorbei entwickeln, noch dürfen sie aufhören, ihre Technologien verbessern zu wollen.
Inzwischen ist bekannt, dass es punktgenaue Kenntnis der Kundenanforderungen braucht, um Over-Engineering zu vermeiden. Nur die Ermittlung der Kundeninteressen schützt davor, Zeit und Material in falsche Entwicklungen zu investieren. Simulationstools oder so genannte Conjoint-Analysen können Abhilfe schaffen.
Im Trend: Kundenumfragen erfassen Bedürfnisse
Fallstudien
[4] verdeutlichen: eine kluge Systematik bei der Evaluation der Kundenanforderungen ist unverzichtbar, um dem kontinuierlichen Kostendruck
[5] entgegen zu wirken. Basierend darauf hat der motion plastics® Spezialist igus® eine interne Analyse in seinen Zielmärkte durchgeführt, mit dem Ziel noch dichter an den Kundenanforderungen zu entwickeln und Over-Engineering zu vermeiden. Benefit für die Industrie: Entweder sinken die Kosten oder es gibt mehr Technologie für dieselbe Investitionssumme. Durch Anpassung der Parameter und das Wissen um Kundenbedürfnisse und regulatorische Vorgaben, reduzieren sich im Optimalfall die Total Cost of Ownership für den Endkunden.
Die branchenübergreifend durchgeführte Umfrage der Business Development und Produktmanager des motion plastics® Spezialisten zeigt, welche Faktoren den Kunden beim Kauf von Komponenten und Maschinen am wichtigsten sind:
- die Stabilität eines Produktes, und einer daraus resultierenden höheren Lebensdauer
- noch mehr Bauraum sparen bei der Implementierung einer Komponente in die Maschine
- den Lärmpegel an einer Anlage bzw. in der Produktion senken
- das Gewicht eines Produktes reduzieren
- die Montagezeiten zur Installation an einer Anlage senken
- Wartungsaufwand / -intervalle von Komponenten / Bauteilen und damit an der Maschine minimieren
- die Total Cost of Ownership senken (Beschaffung, Betrieb, Instandhaltung, Entsorgung)
Überraschende Ergebnisse und Variantenvielfalt zwischen den Branchen
Zwar legten technische Entscheider aller Branchen Wert auf Stabilität und Lebensdauer. Den befragten Ingenieuren aus den Bereichen Baumaschinen, Bahn oder Offshore war aber z. B. der benötigte Bauraum eines Bauteils eher unwichtig, was angesichts der Anlagengröße nur plausibel ist.
Beim Thema Geräuschentwicklung legen vor allem Ingenieure in der Medizintechnik, der Automotive- oder Aerospace Branche Wert auf Perfektion, während es bei den anderen Befragten eine eher untergeordnete Rolle spielt. Branchen in denen Lärm irrelevant ist, partizipieren von etablierten Standardkomponenten mit gutem Preis-Leistungsverhältnis.
Ähnlich beim Thema Gewicht: Während es für Konstrukteure in der Luft- und Raumfahrttechnik eine zentrale Rolle spielt, ist es für Ingenieure anderer Branchen eine sekundäre Größe. Auch hier lassen sich durch den Endkunden Kosten im Einkauf sparen und seitens igus® dem Over-Engineering bewusst entgegensteuern. Erstaunlich ist, dass für knapp die Hälfte aller Befragten Unternehmen aus den insgesamt 25 untersuchten Branchen das Thema Montagezeit weniger wichtig ist und auch Wartungsintervalle eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Fazit
Das Thema Over-Engineering ist in der Industrie angekommen. Instrumente wie die Conjoint-Analyse unterstützen Auftraggeber und Dienstleister gleichermaßen, den schmalen Grat zwischen technischer Perfektion und kosteneffizienter Herstellung beschreiten zu können. Industrieunternehmen und Zulieferer können im härter werdenden globalen Wettbewerb nur bestehen, wenn sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Dazu zählt auch die aktive Suche und Vermeidung von Over-Engineering.
Allerdings auch nicht überall: In der Medizintechnik kommen z. B. viele Produkte / Technologien unmittelbar am oder im Menschen zum Einsatz. Perfektion, Detailverliebtheit und ein Quäntchen mehr Sicherheit haben dabei sogar Priorität. Hier wissen Branchenkenner Over-Engineering durchaus zu schätzen.
[6]
[1] https://www.maschinenmarkt.vogel.de/sparen-im-einkauf-verursacht-erhebliche-mehrkosten-a-864291/ [2] Werner Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, Springer Verlag [3] https://www.wirtschaftswissen.de/einkauf-produktion-und-logistik/produktionsplanung/qualitaetsmanagement-produktion/schluss-mit-overengineering-warum-sie-stets-auf-adaequate-technologien-und-prozesse-setzen-sollten/ [4] https://www.tcw.de/news/optimierung-der-produktspezifikation-mittels-der-conjoint-analyse-980 [5] https://www.pwc.de/de/pressemitteilungen/2020/deutscher-maschinenbau-ist-und-bleibt-auch-2020-im-krisenmodus.html [6] https://www.ingenieur.de/karriere/arbeitsleben/arbeitssicherheit/over-engineering-fuer-vorteil/